Abdullah hält sein Baby im Arm

Abdullah, 30 Jahre

Jemen: 2024

Abdullah hat seinen Mut bewiesen. Die Rechnung dafür war bitter. Es ist der 24. Mai 2018: An der Frontlinie im Bezirk Mokha hat der 20-Jährige schnell gelernt, wie das Zischen von Kugeln, die Einschläge von Mörsergranaten klingen. Der junge Mann aus Aden meldete sich mit 18 Jahren freiwillig, um gegen die Huthi-Truppen zu kämpfen. Aus einem Highschool-Teenager wurde ohne Umwege ein Kämpfer.

Abdullah hört eine dumpfe Explosion, dann eine zweite. „Minen“, denkt er sich. Dann dringen schon die Schreie seiner verwundeten Kameraden zu ihm durch. Er läuft zu ihnen, geradewegs ins Minenfeld. Es ist ihm klar, dass das eine extreme Gefahr bedeutet. Wo eine Mine vergraben ist, warten viele andere. Der junge Kämpfer zieht den ersten Verwundeten heraus. Der Mann hat keine Beine mehr. Die Explosion hat sie weggerissen. Er wird nicht lange überleben. Dann kehrt Abdullah für den zweiten Verwundeten um. Diesem wird später ein Bein amputiert werden.

So wie es mit Abdullah selbst geschieht. Er hat sein Gewehr liegen lassen, um die beiden Männer auf sicheren Boden bringen zu können. Also läuft er noch einmal zurück, um es zu holen. Die Explosion reißt ihm den rechten Fuß ab. Splitter dringen tief ins Fleisch, vor allem an den Händen trägt er durch Schrapnelle schwere Verletzungen davon.

Wie an seinem Körper hat der Krieg auch in seinem Wohnviertel in Aden Spuren hinterlassen, die sichtbar sind. An der großen asphaltierten Straße schlugen offensichtlich gleich mehrere Granaten in ein mehrstöckiges Haus ein. An einigen Wänden benachbarter Häuser sieht man die Einschusslöcher von Maschinengewehrsalven. Keinen Kilometer entfernt liegt ein mächtiges Hotelgebäude in Trümmern. 2015 und 2016 wogten in Aden schwere Kämpfe. Auch jetzt kommt es nachts zu Schießereien rivalisierender Einheiten.

Das Haus von Abdullahs Familie liegt einige verwinkelte Gassen von der breiten Straße entfernt. Hier lebt die Großfamilie. Abdullahs Vater ist ein pensionierter Hauptmann und bezieht eine kleine Rente. Abdullah hat sein zwei Monate altes Kind im Arm. Sein vierjähriger Sohn streicht dem Baby vorsichtig über den Kopf.

„Nach der Amputation hätte ich mir nicht vorstellen können, jemals eine eigene Familie zu haben. Ich hatte meinen Mut fast verloren. Was sollte denn werden, mit nur einem Bein?“, sagt der 26-Jährige heute.

Der Weg zur Gründung seiner eigenen Familie war ein langer und steiniger. Jahrzehntelange Instabilität und Krieg zeichnen den Jemen mit seinen 30,5 Millionen Menschen in allen Bereichen des Lebens, auch und ganz besonders im Gesundheitswesen. Das Land ist derzeit geteilt. Große Teile der Infrastruktur sind beschädigt oder zerstört. Knapp 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Abdullah hat einen Vorteil, er wohnt in Aden. So konnte er die Angebote der Hilfsorganisation Handicap International nutzen. Er erhielt kostenlos eine neue Prothese, psychosoziale Unterstützung und eine physiotherapeutische Behandlung. „Das hat mir geholfen, an meine Zukunft zu glauben“, sagt der junge Familienvater. Die Gegenwart hat materiell wenig zu bieten. Die Großfamilie teilt sich ein schlichtes und kleines Haus. Ab und an kann Abdullah einen Gelegenheitsjob ergattern. Doch mit den operierten Händen und seiner Prothese sind harten körperlichen Arbeiten Grenzen gesetzt. „Im Vergleich zu manch anderen kommen wir trotzdem zurecht“, sagt Abdullah.

Nach der Amputation hätte ich mir nicht vorstellen können, jemals eine eigene Familie zu haben.

Diese Geschichte ist Teil unserer Wanderausstellung barriere:zonen. Die Ausstellung können Sie gerne ausleihen und mithelfen, diese Geschichten und ihre starken Botschaften zu verbreiten. Gerne kommt der Autor Till Mayer zu einem Vortrag.

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Hintergrund

(Stand 2024) Das Leben der Menschen im Jemen ist geprägt von jahrzehntelanger Instabilität, internen gewaltsamen Konflikten und seit 2015 von einem Krieg, in dem zahlreiche internationale und nationale Akteure mitmischen. Hauptakteure sind die saudi-arabische Armee sowie die Huthi-Rebellen. Der Krieg hat bereits zehntausende Todesopfer gefordert und führte zu einer der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit. Huthi-Rebellen kontrollieren Teile des Landes. Weitere Teile werden von der offiziellen Regierung kontrolliert, die sich auf eine internationale Koalition unter der Führung Saudi-Arabiens stützt. Das Gesundheitswesen ist größtenteils zusammengebrochen, knapp 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die langfristigen humanitären Folgen des jahrelangen massiven Bomben- und Granatenbeschusses in Wohnvierteln sind erschreckend. Unzählige explosive Blindgänger beeinträchtigen das tägliche Leben, die Entwicklung und den Wiederaufbau des Landes.

So unterstützt Handicap International

Der 26-jährige Abdullah ist einer von unzähligen Überlebenden von Unfällen Minen und anderen Kriegsresten. Landminen können nicht zwischen Militär, Kämpfenden und Zivilbevölkerung unterscheiden und bleiben oft noch Jahre nach Konfliktende im Erdreich versteckt. Daher stammen mehr als Dreiviertel aller Minenopfer aus der Zivilbevölkerung. Verminte Gebiete stellen eine große Gefahr für die Bevölkerung dar. Handicap International setzt sich für die Durchsetzung des Verbotes von Landminen ein.

Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.

Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.

Abdullahs Bein musste amputiert werden und er benötigt seit dem eine Prothese. Seit der Gründung von Handicap International im Jahr 1982 sind Reha-Leistungen für Menschen mit Behinderung eine zentrale Aufgabe. Fachkräfte werden vor Ort ausgebildet und nutzen lokal verfügbare Materialien, Kompetenzen und Infrastrukturen. Hilfsmittel, wie zum Beispiel Prothesen, Orthesen, Rollstühle oder Hörgeräte, sowie psychosoziale Unterstützung helfen den Betroffenen wieder selbstständig ins Leben zurückzufinden.