Mirsad Tokić, 46 Jahre
Kroatien: 2015
Mirsad Tokić hat genug gesehen, um zu wissen, dass ein Fehler tödlich sein kann. Seinem Kollegen Branko reißt eine Springmine den ganzen Bauch aus dem Körper. Eine Prom-1 erinnert ein wenig an eine Bierflasche aus Stahl. Darin sind der Sprengstoff und die Splitter zusammengepresst. Stößt jemand gegen den mit ihr verbundenen Stolperdraht, springt die Mine nach oben und spuckt mit lautem Knall den Tod. Scharfe Metallsplitter, die rundherum alles zerfetzen. Bis zu 22 Meter sind sie tödlich, nach 50 Metern kann das Opfer vielleicht überleben. Branko steht nur wenige Meter entfernt. Er hat keine Chance.
Mirsad Tokić lacht heiser auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer, als er davon erzählt. Es ist ein trauriges Lachen. Nach all den Jahren kann der ehemalige Entminer heute noch verzweifeln. Über den Tod eines jungen Mannes, der 1998 mit einem riesigen Loch im Körper langsam und qualvoll stirbt. „Mein Gott, wir hatten eine Maschine, die wir aufs Feld hätten schicken können“, sagt der heute 46-Jährige. Aber sein Arbeitgeber, eine Spezialfirma zur Kampfmittelbeseitigung, fürchtete, dass eine Panzermine das teure Gerät in Schrott verwandeln könnte. Daher sollte Branko ohne Unterstützung der Maschine auskommen. Es hätte genauso gut Mirsad Tokić erwischen können.
Branko ist nicht der einzige Entminer, bei dessen Beerdigung Mirsad Tokić am Grab steht. All das hätte ihm genügend Respekt vor seiner Arbeit einflößen müssen. „Mir fehlte dennoch einfach jede Angst“, sagt er heute, streckt kurz das linke Bein mit der Prothese aus.
Am 27. März 2007 ist er mit seinen Gedanken schon einen Tag voraus, seinem 38. Geburtstag. Malt sich aus, wie die ganze Truppe in seiner kleinen Zagreber Wohnung feiert. Freunde, Verwandte, ein Paar von den Jungs mit der Schutzweste, die nahe dem kleinen Dorf Nečven an diesem grauen Märztag hinter ihm stehen. Es kommt anders. Schon ein paar Tage zuvor hatten sie ein weiteres Minenfeld entdeckt, das auf keiner Karte eingezeichnet war. „Alles sprach dafür, dass hier der Boden regelrecht mit Sprengsätzen gespickt war. Einige konnte man mit bloßem Auge sehen“. Das Team fordert von seiner Firmenzentrale eine Maschine für den Einsatz an. Das Feld zu klein, die Straßengebühren für den Transport zu hoch, kommt als Antwort aus Zagreb. Mirsad Tokić muss an Branko denken. Er ist wütend, dass wieder Menschenleben weniger als der Profit zählen. Der Tag soll nur schnell vorbei gehen. Mirsad Tokić geht einen Schritt zu weit - in noch nicht geklärtes Gelände. Nur einen Schritt, er kostet ihn sein halbes linkes Bein. 30.000 Euro zahlt ihm dafür die Versicherung, die sein Arbeitgeber abgeschlossen hat. Es ist der vorgeschriebene Minimalschutz.
Fast zwei Jahre kann er nach der Amputation in dem Beruf arbeiten, den er studiert hat: Verkehrsspezialist. Dann treffen ihn die Folgen der Profitgier der Banker und Spekulanten: Das staatliche Institut entlässt wegen der Finanzkrise einen großen Teil der Belegschaft. Ihm ist klar, dass er als Invalide mit seiner Ausbildung kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat. Heute ist Mirsad Tokić aufgrund seiner Behinderung verrentet, stürmt auf dem Fahrrad gerne über Passstraßen und versucht seine Zwillinge Tesa und Hana (16 Monate) sowie Sohn Dino (3,5 Jahre) zu bändigen. Schon rüttelt Hana an seiner Prothese. Sie will auf seinen Schoß.
„Es ist etwas Böses, Minen zu verlegen. Aber wenigstens bei ihrer Beseitigung ist es an der Zeit, dass nicht nur Geld zählt. Ich habe mein Bein als Entminer auch deshalb verloren, weil mein Arbeitgeber seine teure Maschine schonen wollte.“
Diese Geschichte ist Teil unserer Wanderausstellung barriere:zonen. Die Ausstellung können Sie gerne ausleihen und mithelfen, diese Geschichten und ihre starken Botschaften zu verbreiten. Gerne kommt der Autor Till Mayer zu einem Vortrag.
Hintergrund
(Stand: 2015) Der Kroatienkrieg von 1991 bis 1995 hat gefährliche Relikte hinterlassen: Landminen. Sie wurden in großer Zahl an den damaligen Frontlinien gelegt. Schätzungen gehen davon aus, dass in Kroatien noch immer zehntausende Minen verstreut liegen. Da selten Lagepläne von den Minenfeldern bestehen, gestaltet sich die Beseitigung der Sprengsätze seit Kriegsende als sehr aufwendig und gefährlich. Bei der Räumung der Minenfelder bestehen zwischen erfahrenen non-profit Organisationen aus der humanitären Minenräumung und kommerziellen Firmen teilweise deutliche Unterschiede bei Sicherheitsstandards, Arbeitsweise und Ausbildung. Die Folgen können tödlich sein.
So unterstützt Handicap International
Mirsad Tokic war Entminer im Kroatienkrieg. Während eines Einsatzes verliert er sein halbes linkes Bein. Heute ist Mirsad Tokić aufgrund seiner Behinderung verrentet. Landminen können nicht zwischen Militär, Kämpfenden und Zivilbevölkerung unterscheiden und bleiben oft noch Jahre nach Konfliktende im Erdreich versteckt. Daher stammen mehr als Dreiviertel aller Minenopfer aus der Zivilbevölkerung. Verminte Gebiete stellen eine große Gefahr für die Bevölkerung dar. Handicap International setzt sich für die Durchsetzung des Verbotes von Landminen ein.
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